Bereits im Februar 1990 beginnen Verhandlungen der DDR und der Bundesregierung über eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Damit zeichnet sich ab, dass sowohl das Wirtschafts-, als auch das Handelssystem in der DDR in großem Umfang umgestaltet und an die marktwirtschaftliche Bedingungen der Bundesrepublik angepasst werden müssen.
Um den Prozess möglichst reibungslos zu gestalten, arbeiten die Ministerien für Ernährung, Land- und Forstwirtschaft, Handel und Tourismus, Wirtschaft sowie das Amt des Ministerpräsidenten eng zusammen. Verschiedene Gesetzesvorhaben, wie die Anpassung des Kartellrechts oder das Gesetz zur Preisbildung und Preisüberwachung, werden zwar im Ministerium für Wirtschaft erarbeitet, doch die konkrete Umsetzung und Überwachung obliegt dann dem Ministerium für Handel und Tourismus. Ähnliches gilt für das Amt für Wettbewerbsschutz, das beim Amt des Ministerpräsidenten angesiedelt ist, aber in vielen Fragen mit dem MfHT kooperiert.
Neue Preispolitik
In Vorbereitung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion gründet sich am MfHT eine Arbeitsgruppe Währungsunion/Ökonomie, die eine umfangreiche Informationsbroschüre für die Handelsunternehmen erarbeitet. Darin enthalten sind nach neun Themenfeldern sortierte Richtlinien und Orientierungen, die bei der Umstellung von Plan- auf Marktwirtschaft zu beachten sind:
Aufgrund des Wegfalls der staatlichen Preisvorgaben befürchtet die DDR-Regierung einen Anstieg der Preise für Waren des täglichen Bedarfs. Um die Preisbildung zu beeinflussen, werden folgende Hinweise für Handelsunternehmen gegeben:
Parallel entwickeln die Ministerien für Finanzen, Wirtschaft, Handel und Tourismus im Mai 1990 einen gemeinsamen Katalog von Maßnahmen, um den Binnenmarkt der DDR vor der Preis- und Warenkonkurrenz aus der Bundesrepublik zu schützen. Sowohl der Konsumgüterproduktion, als auch dem Handel sollen vor und nach dem Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion für eine Übergangszeit besondere Konditionen garantiert werden. Beide Wirtschaftszweige können zu diesem Zeitpunkt nicht im Wettbewerb mit westlichen Anbietern bestehen. Die Maßnahmen umfassen unter anderem
Hinweise zur Preisbildung in Handelsunternehmen mit Einführung der Währungsunion. Auszug aus der Orientierungshilfe für Handelsunternehmen bei der Umsetzung der Währungsunion, Juni 1990.
Quelle: BArch, DL 1 / 26553 (pdf)Schreiben von Sybille Reider an Wirtschaftsminister Pohl mit Vorschlägen zur Stärkung und Schutz des DDR-Binnenmarktes, ohne Datierung
Quelle: BArch, DL 1 / 26562 (pdf)Ministerratsbeschluss über Maßnahmen zur Förderung der Industrie und des Binnenhandels in Vorbereitung und Durchführung der Wirtschafts- und Währungsunion mit der BRD vom 16. Mai 1990.
Quelle: BArch, DC 20 / I / 3 / 2953, pag. 46-59 (pdf)Eine der zentralen Maßnahmen zum Schutz des Binnenhandels ist die Umbewertung der eingelagerten Warenbestände im staatlichen Handel. Zu Beginn des Jahres 1990 verfügt der staatliche Handel über große Reserven, die möglichst noch vor dem 1. Juli 1990 verkauft werden sollen. Um dies zu bewerkstelligen, werden vor allem massive Preissenkungen vorgenommen, mit denen die DDR-Produkte attraktiv und konkurrenzfähig gemacht werden sollen. Für die Festlegung der konkreten Preise sind die Leiter der Handelsbetriebe und Verkaufsstellen jedoch selbst verantwortlich. Als Richtlinie sind lediglich bestimmte Senkungssätze vorgegeben. Die Einhaltung der Richtlinien wird am 21./22. Mai 1990 durch etwa 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem MfHT in allen Bezirken der DDR stichprobenartig geprüft.
Im Zuge der Umbewertung und aufgrund der bevorstehenden Währungsumstellung kommt es zu Vorratskäufen. Davon besonders betroffen sind lange haltbare Lebensmittel, Bekleidung oder Toilettenpapier. Innerhalb kurzer Zeit kommt es deswegen zu Versorgungsengpässen, die bei der Bevölkerung Proteste auslösen.
Schreiben von Sybille Reider an alle Generaldirektoren im Groß- und Einzelhandel vom 23. April 1990. Darin fordert sie die Handelsbetriebe auf trotz aller Widrigkeiten die DDR-Bevölkerung ohne Einschränkungen mit Waren zu versorgen.
Quelle: BArch, DL 1 / 26562 (pdf)Information über die Vorbereitung und Durchführung der von der Regierung am 16. Mai 1990 beschlossenen Maßnahmen zur Preissenkung von Waren aus Handelsbeständen, 23. Mai 1990.
Quelle: BArch, DL 1 / 26538 (pdf)Nach Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 kommt es trotz aller vorbereitenden Maßnahmen zu einem kurzfristigen Anstieg der Preise, vor allem für Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs. So kosten 500 Gramm Bohnenkaffee am 2. Juli 1990 durchschnittlich 9,70 DM während das gleiche Produkt zur gleichen Zeit in Westdeutschland für etwa 8,17 DM angeboten wird. Nach einer kurzen Anpassungsphase nähern sich die Preisspannen jedoch zunehmend an, so dass Kaffee Ende August 1990 in der DDR sogar für etwa 7,33 DM verkauft wird.
Lieferengpässe und die Einsetzung des Operativstabs „Versorgung“
Neben dem Anstieg von Preisen entstehen unmittelbar nach dem 1. Juli 1990 punktuelle Versorgungsprobleme und Lieferengpässe. Dabei kommt es zu einer widersprüchlichen Situation: Aufgrund der geringen Nachfrage nach Waren und Lebensmitteln aus DDR-Produktion kommt es trotz gefüllter Lager zu leeren Regalen in den Kaufhallen. Besonders betroffen sind davon Verkaufsstellen in ländlichen Regionen. Zum Teil sind aber auch Verzögerungen bei der Auslieferung von Waren an die Großhandelsbetriebe für die Lieferengpässe verantwortlich. Darüber hinaus erfolgen zahlreiche Anlieferungen nicht im vereinbarten Umfang oder es treten Probleme bei den neu organisierten Vertriebsstrukturen auf.
Doch nicht nur logistische, sondern auch wirtschaftspolitische Entscheidungen beeinflussen diese Entwicklungen. Den Leitern der Verkaufsstellen wird von den neuen Auftraggebern aus dem Westen teilweise untersagt, Waren von anderen Anbietern zu beziehen, auch wenn die Lager der entsprechenden Handelskette nicht zeit- und sortimentsgerecht liefern können. Den Großhandelsbetrieben, die mit einem bestimmten Einzelhandelspartner oder einer Handelskette kooperieren, ist es nicht gestattet, bestimmte Waren an andere Einzelhandelsbetriebe zu liefern (Abschluss von Exklusiv-Verträgen).
Information zur Lage bei der Versorgung mit Lebensmitteln und Waren nach Wirksamwerden der Währungsunion vom 9. Juli 1990.
Quelle: BArch, DL 1 / 26567 (pdf)Information über Versorgungsprobleme in Verkaufseinrichtungen, die durch die Handelsketten der Bundesrepublik verursacht werden, 23. Juli 1990.
Quelle: BArch, DL 1 / 26560 (pdf)Um dieser Situation entgegenzuwirken, verständigt sich Sybille Reider am 24. Juli 1990 bei einem Treffen in Berlin mit Vertretern aus dem bundesdeutschen Handel auf eine Fünf-Punkte-Erklärung:
Beispiel: Manasan Säuglingsnahrung
Die in der DDR gebräuchliche Säuglingsnahrung Manasan erfährt nach Einführung der D-Mark eine Preissteigerung von bis zu 171%. Zusätzlich gibt es wochenlang Lieferengpässe, worauf Kundinnen und Kunden mit Unverständnis und Protest reagieren. Aufgrund zahlreicher Protestschreiben an das Ministerium setzt Sybille Reider eine Untersuchungsgruppe ein und verhandelt mit der Nestlé-Alete GmbH über eine Ausweitung der Herstellung. Der Konzern hatte kurz zuvor die Manasan Produktion in der DDR übernommen. Die Preissteigerungen und Lieferengpässe lassen sich, so die Ergebnisse der Untersuchungskommission, vor allem auf Schwankungen bei den Bestellungsmengen, Erhöhungen bei den Rohstoffpreisen und Problemen beim Vertrieb zurückführen.
Im April und Mai 1990 sinken die Bestellungen um etwa 50%, sodass nur noch ca. 65 t anstatt der zuvor üblichen 130 t produziert werden. Infolge des Bestellungsrückgangs werden zudem die Produktion reduziert und gelagerte Rohstoffreserven aufgebraucht. Im Mai 1990 steigt die Nachfrage wieder auf das übliche Niveau. Die Bestellungen können jedoch aufgrund der aufgebrauchten Reserven und der gedrosselten Produktion nicht erfüllt werden. Zudem kommt es durch einen Maschinenschaden vom 1. bis 12. Juli 1990 zu einem Produktionsausfall, der eine regelmäßige Belieferung des Handels verhindert.
Neben der Verknappung der Ware tragen die Erhöhung des Industrieabgabepreises auf Basis der bundesdeutschen Rohstoffpreise von 3,96 DM auf 6,79 DM und der Wegfall der staatlichen Subventionen entscheidend zur Verteuerung von Manasan bei.
Der Operativstab Versorgung
Besonders der Zusammenbruch beim Absatz von DDR-Produkten bereitet Industrie und Landwandwirtschaft große finanzielle Probleme. Um die Situation umfassend zu analysieren und Gegenmaßnahmen einzuleiten, wird auf Veranlassung von Lothar de Maizière am 10. Juli 1990 der Operativstab Versorgung eingerichtet. Der Operativstab wird von Werner Jurich, einem Staatssekretär aus dem Ministerium für Handel und Versorgung, geleitet und tagt bis zum 26. September 1990 insgesamt 40 Mal. Darüber hinaus nehmen Vertreterinnen und Vertreter aus den Ministerien für Wirtschaft, Finanzen, Landwirtschaft und dem Amt für Wettbewerbsschutz an den Sitzungen teil.
Die Arbeit erfolgt auf Grundlage der Ergebnisse neu eingerichteter Kontrollgruppen des MfHT, die in Verbindung mit den Bezirksverwaltungsbehörden die Versorgungslage in vier Segmenten analysieren. Dazu gehören:
Zusätzlich erfolgt die Einrichtung eines telefonischen Konsultationsdienstes für Konsumenten sowie Handels- und Produktionsbetriebe in der DDR. Zu den zentralen Zielen des Operativstabes gehören die Verbesserung des Angebotes von Nahrungs- und Genussmitteln, die Erhöhung des Anteils von Erzeugnissen aus DDR-Produktion und die Unterbindung ungerechtfertigter Preisentwicklungen. Zudem soll der Stab Orientierungen für die Höhe von Handelsspannen herausgeben und Konsultationen mit betroffenen Produktionsbereichen durchführen. In einem ersten Analysepapier erstellt der Operativstab eine Auflistung der Problemlagen von DDR-Produkten im Handel:
Die Ergebnisse der Beratungen und die daraus folgenden Handlungsanweisungen des Operativstabes werden nach jedem Treffen zusammengefasst und direkt mit dem Ministerpräsidenten abgestimmt. Nach einer etwa zweimonatigen Anpassungsphase pendeln sich die Preise bei Waren des täglichen Gebrauchs knapp unter dem Niveau der Bundesrepublik ein. Zentrales Tätigungsfeld bleibt bis September 1990 die Ursachenermittlung von Versorgungsproblemen an Hand von Analysen der Kette vom Produzenten bis zum Handel und die Zusammenführung von Produzenten und Händlern.
Protokoll der 1. Beratung des Versorgungsstabes im Ministerium für Handel und Tourismus am 10. Juli 1990.
Quelle: BArch, DL 1 / 26566 (pdf)Zur Lage in der Versorgung – nach Ergebnissen der Arbeit des Operativstabes Versorgung, ohne Datierung
Quelle: BArch, DL 1 / 26560 (pdf)Information des Operativstabes Versorgung vom 1. August 1990.
Quelle: BArch, DL 1 / 26566 (pdf)Verbraucherschutz
Um die Rechte und Interessen der Konsumenten der DDR zu schützen, gründet sich bereits im Februar 1990 der Verband für Verbraucherschutz der DDR, der sich als verbraucherpolitische Dachorganisation positioniert. Mit Hilfe des MfHT baut die Organisation innerhalb kurzer Zeit ein landesweites Netz aus Verbraucherzentren auf, in denen vor allem Ehrenamtliche arbeiten. Als Anschubfinanzierung werden für den Verbraucherschutz im 2. Halbjahr 1990 5 Millionen DDR-Mark aus dem Haushalt bereitgestellt. Um die Arbeit der Organisation politisch zu begleiten, wird im April 1990 ein Referat für Verbraucherpolitik und Verbraucherschutz im Ministerium gegründet, das folgende Maßnahmen einleitet:
Mit dem Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wird nicht nur der Handel und Warenverkehr vollkommen liberalisiert, auch die Konsumenten in der DDR müssen sich mit den Regeln der Marktwirtschaft vertraut machen. Besonders die Unerfahrenheit im Umgang mit Verträgen, Werbung und anderen Verkaufstechniken führt dazu, dass viele Ostdeutsche zu dieser Zeit Opfer unseriöser Geschäftspraktiken werden. Um den enormen Beratungs- und Aufklärungsbedarf in der DDR-Bevölkerung zu stillen, entwickelt das Ministerium Aufklärungs- und Informationskampagnen, die von den regionalen Verbraucherschutzzentralen umgesetzt werden. Zudem werden auf Basis kontinuierlich durchgeführter Kontrollen und Vergleiche mit dem westlichen Markt zahlreiche Richtlinien und Empfehlungen zur Preisgestaltung entwickelt. Diese haben jedoch nur konsultativen Charakter und sind nicht rechtlich bindend.
Information sowie Entscheidungsvorschläge zu Aufgaben und Maßnahmen auf dem Gebiet Verbraucherpolitik/Verbraucherschutz vom 21. Juni 1990.
Quelle: BArch, DL 1 / 26563 (pdf)Pressemitteilung zum Verbraucherschutz vom 6. Juli 1990.
Quelle: BArch, DL 1 / 26560 (pdf)Mitteilung von Sybille Reider an die Mitglieder des Ministerrates zur Gründung eines Referates für Verbraucherpolitik / Verbraucherschutz vom 23. April 1990.
Quelle: BArch, DL 1 / 26654 (pdf)