Schon im Frühjahr 1990 gelangen aufgrund neuer Importlizenzen massenweise Produkte aus der Bundesrepublik in die DDR. Dadurch geht der Verkauf von DDR-Erzeugnissen stark zurück, obwohl diese Produkte aufgrund der staatlichen Subventionierung preisgünstiger sind. Die wenigen Kühlhäuser der DDR sind schon in den ersten Monaten des Jahres 1990 randvoll mit Fleisch, Butter, Eiern oder Honig, weil diese Waren nicht mehr abzusetzen sind.
Das hat drastische Auswirkungen auf die Situation der Bauern und Genossenschaften. Bereits bei seinem Amtsantritt im April 1990 ist Landwirtschaftsminister Peter Pollack mit diesem Problem konfrontiert. Diese Entwicklung wird sich in den nächsten Monaten verschärfen. Hinzu kommt, dass durch die Festlegungen im ersten Staatsvertrag, der am 18. Mai 1990 unterzeichnet wird, die Einführung der Marktwirtschaft bevorsteht.
Innerhalb weniger Wochen müssen insbesondere die LPG erhebliche Strukturanpassungen auf den Weg bringen, um wettbewerbsfähig zu werden und wirtschaftlich rentabel zu produzieren. Viele Arbeitsplätze sind akut bedroht. Außerdem müssen sich die Erzeuger selbst um neue Abnehmer für ihre Produkte bemühen, da die bestehenden Verträge mit den Aufkaufbetrieben und der Lebensmittelindustrie nicht mehr eingehalten oder aufgekündigt werden. So bleiben die Primärproduzenten auf ihren Erzeugnissen sitzen, was zu großem Unmut und Verunsicherung führt. Auch die Aufkaufbetriebe und Lebensmittelproduzenten sind in einer schwierigen Lage, weil der Handel ihre Produkte nicht abnimmt, sondern die Konsum- und HO-Läden lieber mit Westwaren versorgt. Das sorgt einerseits für einen massiven Rückstau bei den Erzeugern und andererseits für Liquiditätsprobleme bei der Nahrungsgüterwirtschaft und der Kühl- und Lagerwirtschaft. Letztere können den ersteren nicht mehr die gesetzlich vorgeschriebenen Erzeugerpreise zahlen, weil sie selbst die Waren nicht weiterverkaufen können. Zur Verschärfung der Lage tragen auch die Verbraucher bei, weil sie keine einheimischen Produkte mehr kaufen.
Zuspitzung der ökonomischen Lage
Nach Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990 kollabiert das bisher staatlich gelenkte Zusammenwirken von Landwirtschaft, Verarbeitungsindustrie und Handel vollends. Die Betriebe sind nicht ausreichend über die Veränderungen, die auf sie zukommen, informiert und schlecht vorbereitet. Besonders hart trifft es neben den Primärproduzenten die fleisch- und milchverarbeitende Industrie, deren Produktion aufgrund der hohen Verderblichkeit der Waren nicht einfach gestoppt werden kann. Die Kühl- und Lagerkapazitäten sind jedoch erschöpft. Dadurch kommt es mancherorts zur Vernichtung von Lebensmitteln.
Mit Einführung der Marktwirtschaft und der D-Mark erfolgt die Preisbildung nunmehr ohne staatliche Regelungen. Vor dem Hintergrund des Überangebotes an Agrarprodukten in der DDR führt das zu einem rapiden Preisverfall für DDR-Erzeugnisse. Die Preise liegen zum Teil erheblich unter dem westdeutschen Niveau, wodurch gewaltige Einnahmeverluste entstehen. Nicht nur der verminderte Absatz, sondern auch die geringen Erlöse aufgrund des Preissturzes verursachen enorme Liquiditätsprobleme in den Betrieben und sind vielfach existenzbedrohend. Die folgende Tabelle zeigt die Preisunterschiede beim Verkauf von Schlachtvieh, Milch und Getreide im Juli 1990:
DDR | Bundesrepublik | |
---|---|---|
1t Schlachtschwein | 2.000 DM | 2.785 DM |
1t Schlachtrind | 2.768 DM | 3.307 DM |
1t Rohmilch | 545 DM | 605 DM |
1t Getreide | 300 DM | 325 DM |
Diese Situation ist für viele Landwirte, die an feste Abnahmemengen und stabile Preise gewöhnt waren, nicht nachvollziehbar. Im Juli und August kommt es zu massiven, teils spektakulären Protestaktionen, in denen sich die Frustration entlädt und ein Intervenieren der Regierung gefordert wird.
Ein Dokument aus dem Landwirtschaftsministerium, wo unter hohem Druck an Lösungen für diese komplexe Gemengelage gearbeitet wird, fasst die Situation im Juli 1990 folgendermaßen zusammen:
„Infolge des Absatzrückganges bei verarbeiteten Erzeugnissen, nicht ausreichender Liquidität der Verarbeitungsbetriebe und verlängerter Zahlungszeiten wurde ein Teil der im Juli abgesetzten Erzeugnisse durch die Verarbeitungsbetriebe nicht bezahlt. Das betrifft insbesondere Milch, wo bisher übliche Abschlagszahlungen durch die Molkereien nicht erfolgten und zum Teil Forderungen der Landwirtschaft aus Milchanlieferungen des Monats Juni noch nicht beglichen sind. (…) Dadurch sind Erlöse nicht geflossen in einem Umfang von 400 Mio DM. (…) Auch bei den übrigen Erzeugnissen, insbesondere Kartoffeln, Gemüse und Obst und sonstigen Leistungen der Landwirtschaft sind erhebliche Absatzstörungen, Preisminderungen sowie unbeglichene Forderungen eingetreten. (…)
In der Summe ergeben sich damit für die Landwirtschaft im Monat Juli Erlösausfälle von ca. 1,4 Mrd. DM. Das sind über 50% der für Juli vorausberechneten Erlöse von 2,7 Mrd. DM. Von den Erlösausfällen sind mindestens 0,5 Mrd. DM als unwiederbringliche Verluste anzusehen (Preisverfall, nicht vermarktete Mengen an Milch, Kartoffeln, Gemüse u.a., nicht realisierte sonstige Leistungen).“
Auszug aus Informationen der Regierungsbevollmächtigten der Bezirke zu Problemen in LPG (Milchabnahme, Gemüseverarbeitung, Schlachtvieh) vom 9. August 1990.
Quelle: BArch, DK 1/28262 (pdf)Einschätzung zur Entwicklung der finanziellen Lage der Landwirtschaft im Juli / Anfang August 1990 und Schlussfolgerungen für die weitere Arbeit vom 13. August 1990.
Quelle: BArch, DK 1/28126 (pdf)Regulierende Maßnahmen
Um den Preisverfall zu kompensieren, stellt das Landwirtschaftsministerium im Juli 1990 Anpassungshilfen in Höhe von 500 Mio DM in Form von Krediten bereit. Um die notwendige Umstrukturierung der Betriebe zu fördern, ist die Ausreichung dieser Anpassungshilfen an die Vorlage eines tragfähigen Anpassungs- und Sanierungskonzeptes durch die Einrichtungen gekoppelt. Diese Vorgabe sorgt für einigen Unmut, denn viele Betriebe glauben, einen pauschalen Anspruch auf Liquiditätshilfen zu haben. Viele LPG können oder wollen keine Liquiditätsnachweise vorlegen. Andere Betriebe anerkennen diese Form der Anpassungshilfe – einen staatlichen Kredit, auf den sie Zinsen zahlen müssen – generell nicht und nehmen ihn gar nicht erst in Anspruch. Da das Volumen der bereitgestellten Mittel aber ohnehin nicht ausreicht, um die Verluste aufzufangen, wird per Ministerratsbeschluss vom 18. Juli eine Aufstockung der finanziellen Mittel für die Land- und Nahrungsgüterwirtschaft festgelegt. Im Juli werden weitere 300 Mio DM und im August noch einmal 400 Mio DM Anpassungsbeihilfen aus dem Staatshaushalt bereitgestellt. Das „Konzept zur Sicherung der Liquidität der Landwirtschaftsbetriebe und zum Stand der strukturellen Anpassung an marktwirtschaftliche Erfordernisse“ sieht zur Entlastung des Marktes außerdem den verstärkten Export von Schlachtvieh und zentral organisierte Aufkäufe (Interventionen) bei Getreide, Butter und Magermilchpulver vor. Durch diese Maßnahmen soll zugleich der Preisrückgang für diese Erzeugnisse aufgehalten werden. Um sicherzustellen, dass die Unternehmen der Getreide-, Fleisch- und Milchwirtschaft einschließlich Molkereigenossenschaften die abgenommenen Erzeugnisse entsprechend dem Marktpreisniveau der Bundesrepublik an die Bauern bezahlen können, wird deren Kreditrahmen um 650 Mio DM erhöht.
Die Auszahlung der finanziellen Hilfen erfolgt (im Juli) allerdings nur schleppend. Aufgrund des ebenfalls im Umbruch befindlichen Bankensystems und Problemen innerhalb der Verwaltung erhalten einige Landwirtschaftsbetriebe die dringend benötigten Hilfen erst nach mehreren Wochen. Deswegen werden die neuen Finanzhilfen im August und September auf direktem Wege per Verrechnungsscheck übergeben.
„Anhaltende Störungen im August“
Als weitere Maßnahme wird der Handel mit der Bunderepublik ab dem 1. August vollständig liberalisiert und alle Beschränkungen werden aufgehoben. Das eröffnet zusätzliche Absatzmöglichkeiten für die Erzeugnisse, wird aber zugleich für ein weiteres Drücken der Preise im Handel mit Getreide und Vieh ausgenutzt. Auf der anderen Seite strömen immer mehr Westwaren in die DDR, so dass der Absatz einheimischer Erzeugnisse weiter stagniert. Zeitgleich beginnt die Hauptsaison der Ernte bei Kartoffeln, Gemüse und Obst. Hier zeichnen sich ebenfalls schwerwiegende Absatzprobleme ab, weil die DDR-Bürgerinnen und -Bürger die einheimischen Ernteprodukte nicht kaufen.
Daher werden in der Folge weitere Maßnahmen auf den Weg gebracht, die mittel- und langfristig zur Stabilisierung der Situation beitragen sollen. Dazu zählen beispielsweise:
Außerdem wird ein Nachtragshaushalt beschlossen, in dem weitere Anpassungsbeihilfen in dreistelliger Millionenhöhe für den September 1990 vorgesehen sind.
Insgesamt halten in den ersten Augusttagen die Absatzstockungen an und die Preise sinken weiter. Viele der regulierenden Maßnahmen entfalten ihre Wirkung erst mit zeitlicher Verzögerung. Unterdessen wird die Stimmung unter den Landwirten immer schlechter. Zahlreiche LPG schicken Beschwerdebriefe an Ministerpräsident de Maizière und Landwirtschaftsminister Pollack. Am 15. August demonstrieren etwa 250.000 aufgebrachte Bauern in Ost-Berlin gegen die Agrarpolitik der Regierung. Minister Pollack nimmt an der Demonstration teil, es gelingt ihm jedoch nicht, zu den Protestierenden zu sprechen. Die Lage droht zu eskalieren. Günther Krause, der ebenfalls an der Demonstration teilnimmt, springt ein und kann beruhigend auf die aufgebrachte Menge einwirken. Er macht den Landwirten das Angebot, sich mit ihren Anliegen persönlich an ihn zu wenden, wovon in den folgenden Wochen rege Gebrauch gemacht wird. Am Tag nach der Demonstration wird Landwirtschaftsminister Peter Pollack von seinen Funktionen entbunden. Für wenige Tage übernimmt Staatssekretär Peter Kauffold die Amtsgeschäfte bis auch er aufgrund des Rückzugs der SPD aus der Regierungskoalition seinen Posten räumt. Für die verbleibende Zeit bis zum Beitritt wird der CDU-Abgeordnete Gottfried Haschke zum geschäftsführenden Landwirtschaftsminister ernannt. Er war bisher in der Volkskammer als Obmann der Arbeitsgruppe Landwirtschaft tätig und Mitglied des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Im August wird außerdem eine Regierungskommission zur Struktur-anpassung in der Landwirtschaft eingesetzt, die von Staatssekretär Heinemann geleitet wird. Dort werden aktuelle Probleme unter Beteiligung der Verbände bearbeitet. Alle Regierungsmaßnahmen, die im Interesse der Landwirtschaft und der Verarbeitungsindustrie noch bis zum 3. Oktober realisiert werden müssen, werden hier koordiniert. Es werden vier Arbeitsgruppen zu den Themen „Rechtssicherheit“, „Strukturanpassung“, „Liquidität“ und „Agrarmarkt“ gebildet.
Schreiben von Landwirtschaftsminister Pollack an Finanzminister Romberg vom 14. August 1990 mit der Bitte um Bereitstellung weiterer Finanzmittel.
Quelle: BArch, DK 1/28262 (pdf)Schreiben von Staatssekretär Kauffold (MELF) an Staatssekretär Skowron (Finanzen) vom 17. August 1990 bzgl. Bereitstellung weiterer finanzieller Hilfen zur Lösung der Liquiditätsprobleme in den landwirtschaftlichen Betrieben.
Quelle: BArch, DK 1/28126 (pdf)Brief der LPG „Einheit“ Proschim vom 16. August 1990 und Antwortschreiben des Parlamentarischen Staatssekretärs Günther Krause vom 21. September 1990.
Quelle: BArch, DC 20/18021 (pdf)Entscheidungsvorlage für die Ministeriumsleitung und Information zum Stand des Exports landwirtschaftlicher Erzeugnisse vom 24. August 1990.
Quelle: BArch, DK 1/28126 (pdf)Vorschläge zum Einsatz der im Staatshaushalt geplanten Mittel für Anpassungshilfen zur Sicherung der Liquidität vom 17. August 1990.
Quelle: BArch, DK 1/28126 (pdf)